Arlesheimer Odilienstatue: Sieben Fragen

Einleitung *)
Odilia von Hohenburg, Schutzpatronin des Elsasses und der katholischen Kirchgemeinde von Arlesheim, verstarb am 13. Dezember 720. An ihrem Todestag gedenkt die katholische Kirche von Arlesheim ihrer und spendet den Odiliensegen: „Durch die Fürbitte der heiligen Odilia bewahre Dich Gott vor der leiblichen und seelischen Blindheit“.

Über das Leben der heiligen Odilia ist nur sehr wenig historisch belegt. Fest steht ihre Herkunft aus der Herrscherfamilie der Etichonen. Der elsässische Papst Leo IX. (1049-1054), gleichzeitig Verwandter Konrads II., zählte sie zu seinen Verwandten.
Odilia soll die Tochter Etichos und Bereswindas gewesen sein. Die Vorfahren Etichos waren mit dem Herrscherhaus der Merowinger verwandt. Während dreier Generationen wurde das Herzogtum Elsass von den direkten Verwandten Odilias regiert: von ihrem Vater Eticho († um 700), von ihrem Bruder Adalbert († 722-723) und ihrem Neffen Luitfrid (bis etwa 750). Unter der Herrschaft der Etichonen war das Elsass - einmalig in seiner Geschichte - selbstständiges Territorium, was die Bedeutung der Familie Odilias unterstreicht und das Schutzpatronat der heiligen Odilia für das Elsass erklärt.

Erst nach einiger Zeit entwickelte sich um die historische Figur eine Heiligenlegende. Die früheste fassbare Legende wurde von einem Kaplan des Klosters Hohenburg im frühen 10. Jahrhundert verfasst.
Der Haupttopos dabei war von Anbeginn die Stilisierung als Schutzheilige gegen Blindheit. Der Ursprung dafür könnte in einem chronologischen Zufall liegen: Der Festtag der heiligen Odilia wird einen Tag früher als jener der frühchristlichen Martyrerin Lucia gefeiert, die ebenfalls als Patronin der Blinden verehrt wird. Diese Nähe der beiden Festtage lässt die Frage zu, ob sie nicht die Legende Odilias mit beeinflusst hat. Die Entstehung von Heiligenlegenden im Mittelalter hatte ihre eigenen Gesetze. Was man heute als Missverständnisse bezeichnen würde, hatte seine eigene Dynamik als Realität der Volksfrömmigkeit, und dass eine ältere Legende zur Entstehung einer „neuen“ Ideen lieferte war ein selbstverständlicher und vielfach nachweisbarer Vorgang.

Während die Überlieferung der Legende über das Leben der heiligen Odilia mit ihrer wundersamen Heilung von Blindheit anlässlich ihrer Taufe und der Flucht vor dem zornigen Vater und die Klostergründung allgemein bekannt und verbreitet ist, ist die Würdigung der Arlesheimer Odilienstatue als spätgotische Plastik weniger gegenwärtig. Nachfolgender Blick richtet sich auf die spätgotische Lindenholzplastik als Kunstwerk des 15. Jahrhunderts.

Odilienstatue-Dom-Arlesheim

Die hinterhöhlte Statue der heiligen Odilia steht in einer Seitenkapelle des Doms und ist 118 cm hoch, was einer zwei Drittel Lebensgrösse entspricht. Die heilige Odilia ist bekrönt - was an ihre adlige Herkunft erinnert - und trägt die Tracht einer Äbtissin. In ihrer Linken hält sie über einem mit Schliessen verschlossenen Buch eine Schale mit zwei Augen, die sie als Patronin der Blinden mit der Rechten segnet. Ihr Mantel ist aussen vergoldet, innen tiefblau, der Rock rot, Krone und Buchschnitt golden. Vom Haupt bleibt nur das Antlitz frei. - Zur Verbindung zwischen der heiligen Odilia und Arlesheim zunächst folgende einleitende Frage:

1. Wie kam es, dass die heilige Odilia von Hohenburg (Elsass) Schutzpatronin der katholischen Kirchgemeinde Arlesheims wurde?
Die Geschichte Arlesheims ist eng mit der heiligen Odilia verbunden. Die Äbtissin Odilia von Hohenburg (Elsass), Besitzerin des Dinghofs Arlisheim (Ding ist auf Thing, Gericht, zurückzuführen: am Dinghof Arlisheim hielt der Landesfürst Gericht), soll diesen im Jahr 708 testamentarisch den Odilienbergklöstern Hohenburg (heute Odilienberg) und Niedermünster (am Fusse des Odilienbergs gelegene Schwesterabtei des Klosters Hohenburg), vermacht haben.

Die beiden Klöster Hohenburg und Niedermünster standen, wohl seit der Gründung von Niedermünster, unter einer gemeinsamen wirtschaftlichen Leitung, wobei Niedermünster der Ableger des Mutterklosters Hohenburg war und, obwohl es seit Anbeginn unter der Leitung einer eigenen Äbtissin gestanden haben dürfte, in wichtigen Fragen wie die Wahl der Äbtissin die Zustimmung von Hohenburg einholen musste. Auf die Dauer wollte sich Niedermünster die Bevormundung durch das Mutterkloster nicht gefallen lassen. Die Beziehungen zwischen den beiden Klöstern waren wenig einträchtig und führten Anfang des 12. Jahrhunderts zu einer Zuspitzung des Rechtsstreits. In dieser Zeit entstand das gefälschte Testament der heiligen Odilia, das vorgibt, aus dem Jahr 708 zu stammen und lange als erste schriftliche Erwähnung Arlesheims galt. Die Fälschung wird dem Kloster Niedermünster zugeschrieben und hatte zum Ziel, Rechtsansprüche auf eine möglichst weit zurückliegende Grundlage zurückzuführen. Das Schriftstück aus dem 12. Jahrhundert belegt nichtsdestotrotz, dass Arlesheim zu den frühen Besitztümern des Klosters Niedermünster gehörte. Früh belegt ist auch das Odilienpatrozinium der späteren Pfarrkirche, was wiederum auf eigentumsrechtliche Verhältnisse hinweist. Es kann folglich davon ausgegangen werden, dass der Hof Arlisheim seit dem 8. Jahrhundert den elsässischen Odilienbergklöstern gehörte.

Kloster-Odilienberg
Kloster Hohenburg (heute Odilienberg)

Kloster-Niedermuester-Ruine
Ruine des Klosters Niedermünster

Bis ins 13. Jahrhundert – über 500 Jahre also - waren die Arlesheimerinnen und Arlesheimer einer Frau untertan, bezahlten ihr Zinsen und standen dafür unter dem Schutz der jeweiligen Äbtissin der Odilienbergklöster und gehörten somit zum Elsass. 1239 verkaufte die Äbtissin Willebirgis Arlesheim für 80 Silbermark an den Basler Bischof Luithard II. Arlesheim war nun Teil des weltlichen Machtbereichs des Fürstbistums Basel. Die Verehrung der Begründerin der Odilienbergklöster, der heiligen Odilia, hatte zuerst nur örtlich begrenzte Bedeutung und griff mit dem 11. Jahrhundert immer weiter aus und erreichte auch die Gebiete der heutigen Schweiz, um in unserem Land im 15. Jahrhundert verbreitete Popularität zu erreichen. Die Entstehung der Odilienstatue um 1430 trifft also zusammen mit der wachsenden Popularität der Odilienverehrung im 15. Jahrhundert.

2. Wie kam die Odilienstatue in den Seitenaltar des Doms?
1341 wurde erstmals die ursprüngliche Arlesheimer Dorfkirche, die auf dem Gebiet des heutigen „alten Friedhofs“ stand, urkundlich erwähnt. Diese Kirche hiess St.Odilienkirche und war der heiligen Odilia geweiht. In der Mitte des Hochaltars habe eine Odilienstatue gestanden – ob es sich hierbei um die Statue aus dem 15. Jahrhundert handelt, die heute im Dom steht, ist nicht belegt, aber wahrscheinlich. Nachdem 1814 der Dom zur neuen Pfarrkirche geworden war, wurde die St.Odilienkirche abgebrochen. Sütterlin berichtet 1878 von einer Odilienstatue des aus dem elsässischen Dorf Bartenheim stammenden Bildhauers Franz Bienz, welche 1864 ihren Platz in der ersten östlichen Seitenkapelle des Doms erhielt. Im Zuge der Modernisierung der künstlerischen Ausstattung des Domes hatte man sich demnach des Odilienpatroziniums der alten Pfarrkirche erinnert. Diese wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert stammende Odilienstatue ist verschollen.

Die spätgotische Odilienstatue, die heute in der ersten Seitenkapelle des Doms steht, wurde vom Basler Kunsthistoriker, Volkskundler und Denkmalpfleger E.A. Stückelberg 1906 in der Krypta des Domes entdeckt. Im Hinblick auf eine fachgerechte Aufbewahrung wurde die Statue 1907 auf Vermittlung von Prof. Stückelberg als Leihgabe im Historischen Museum Basel deponiert (was auch erklärt, warum Pobé die Odilienstatue in seiner Dissertation von 1941 nicht ausführlich beschrieb); Pfarrer Ludwig veranlasste 1945 die Rückkehr der Odilienstatue in den Dom, wo sie die Figur aus dem 19. Jahrhundert ersetzte. Seither steht sie in der ersten (von Osten betrachtet) Seitenkapelle (Nordseite). 2005 wurde sie vollumfänglich restauriert.

Heilige-Odilia-Arlesheim-Seitenkapelle-Dom

Dass die Odilienstatue im Dom nicht zu jeder Zeit einen prominenten Platz eingenommen hat, ist auch damit zu erklären, dass der kunsthistorische Fokus jahrhundertelang auf den hervorragendsten Werken gotischer Steinplastik und auf Holzschnitzereien in einigen berühmten gotischen Altarwerken lag. Dem Studium mittelalterlicher Holzplastik wurde erst im 20. Jahrhundert grösseres Interesse entgegengebracht.

Wer sich der Odilienstatue als spätgotisches Werk annähern will, dem kann die Frage,

3. Welches Weltbild prägte die Menschen im 15. Jahrhundert?
beim Verstehen, beim „Lesen“ der Statue helfen. Entgegen der in der Aufklärung verbreiteten Mär vom thumben Menschen des Mittelalters, der sich die Erde als Scheibe vorgestellt haben soll, war seit der Antike bekannt, dass die Erde eine Kugel ist.

Augustinus-15-Jahrhundert
Augustinus predigt der Menschheit: Darstellung aus dem 15. Jahrhundert, die die Erde als Kugel zeigt

In der Kosmologie des Mittelalters stand die Erde als unbewegliche Kugel im Zentrum des Weltbildes (sogenanntes geozentrisches Weltbild), umhüllt von Elementsphären, Himmelssphären mit den Planeten und der äussersten, der 10. Sphäre mit dem Sitz Gottes. Erst mit Kopernikus (1543) wurde dieses Weltbild durch das heliozentrische Weltbild abgelöst, das die Sonne in den Mittelpunkt des Kosmos stellte.

Geozentrisches-Weltbild
Die himmlischen Sphären, Darstellung von 1539

Im geozentrischen Weltbild des 15. Jahrhunderts „bewohnten“ die Heiligen die 9. Sphäre, die Kristallsphäre (nach Johannes de Sacrobosco) oder den 7. Himmel (nach Beda Venerabilis).

Der Wohnsitz der Heiligen war in der Kosmologie des Mittelalters vertrautes Alltagswissen der Menschen. War die Bedeutung und Verehrung der einzelnen Heiligen vorerst nur eine lokale, so breitete sie sich im Mittelalter immer weiter aus. Die Ausbreitung der Heiligenverehrung ging ab etwa 1300 einher mit dem Entstehen einer neuen Art von Plastik, die vorwiegend der Wand des Kircheninnenraums zugeordnet war und für welche die Odilienstatue beispielhaft ist. Der persönlichen Andacht des einzelnen Gläubigen dienend, kann sich dieser in ihrer unmittelbaren Nähe meditativ oder als Bittsteller „seinem“ Fürsprecher im Jenseits nähern.

Die gotische Bauplastik ist immer sakral, das heisst für die Kirche bestimmt, und Teil eines übergeordneten, dem geozentrischen Weltbild verpflichteten theologischen Programms. In dieses Programm ordnet sich auch die Odilienstatue ein. Sie zeugt zudem von einem neuen Schwerpunkt, der in Form von Darstellungen aus den Heiligenlegenden zur christlichen Heilsgeschichte in die Bildwelt des 15. Jahrhunderts dazu kam.

Diese Erweiterung der mittelalterlichen Ikonographie steht nicht nur im Einklang mit dem geozentrischen Weltbild, sie erscheint auch als logische Folge des Bedürfnisses, die Kosmologie des Mittelalters unter Einbezug der Heiligen zu illustrieren. Die heilige Odilia darzustellen entsprach folglich dem Zeitgeist der Gotik.

4. Was zeichnete die gotische Plastik aus?
Kaum ein Stil hat sich so konsequent vom Vorbild der Antike abgewandt wie die Gotik, deren Wiege als erster abendländischer Kunststil (seit den Römern) nicht in Italien, sondern in Frankreich lag. Von Paris ausgehend breitete er sich von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts über ganz West- und Mitteleuropa aus. Dabei fand die Aufnahme und regionale Umsetzung des Stils in den einzelnen Ländern zeitlich versetzt statt. Die herausragende Schöpfung der Gotik war die Kathedrale, die himmelwärts dem Licht zustrebte und dem Entstehen der sakralen gotischen Bauplastik Raum bot.

In der Gotik wurde ein ganz eigener Formenkanon, eine eigentliche Formensprache, entwickelt. Gotische Werke lassen sich beispielsweise anhand der Ausgestaltung von Laub und Blattwerk an der Aussenwand einer gotischen Kirche oder anhand des Faltenwurfs eines Gewandes einer gotischen Plastik nicht nur relativ genau zeitlich einordnen, sondern diese Elemente dienen dem Verständnis des dem Werk zugrunde liegenden geistigen Tenors. Die Anordnung der Falten beruhte regelmässig nicht auf Naturbeobachtung, sondern folgte stilistischen Regeln. Die Gewandfalten und ihr Verlauf (Faltenwurf) tragen neben Haltung, Ausdruck und Kleidung massgeblich zur Aussage einer Statue bei. Das Verständnis dieser Formensprache war verankert und von breiten Teilen der Bevölkerung lesbar.

Die plastischen Werke der Gotik stehen nicht selbstständig da, sondern sind der Architektur zugeordnet, wandgebunden, das heisst, sie befinden sich unmittelbar an den Aussen- oder Innenwänden der Kirchen. Erst in der der Spätgotik werden sie zunehmend unabhängiger und lösen sich nach und nach von der Wand. So ist auch die Odilienstatue noch an die Architektur – bzw. ein Altarretabel – gebunden und auf Frontalsicht hin konzipiert, wobei der Bildhauer gleichwohl den Eindruck von Vollplastizität zu vermitteln versuchte. Nur auf den zweiten Blick ist erkennbar, dass die Plastik wegen ihrer Hinterhöhlung der Wand bedarf und nur den Schein einer Vollplastik erweckt.

5. Welche Entwicklung nahm die gotische Plastik?
In der Frühgotik hob sich die Plastik reliefartig von der Kirchenwand ab. Mit dem Übergang zur Hochgotik wurde der Reliefcharakter zugunsten der Entwicklung hin zur Vollplastik überwunden; parallel dazu wurden die zunächst noch flachen Gewandfalten reicher. Die überlängten Figuren trugen Gewänder mit streng linearem Faltenwurf.

Strassburg-Kathedrale
Hochgotische Skulptur an der Aussenwand der Strassburger Kathedrale

An der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert veränderte sich die Formensprache und markierte den Beginn der Spätgotik. Es ist die Zeit des sogenannten weichen oder (seiner Verbreitung wegen) internationalen Stils. Trotz dem schon in Ansätzen zu beobachtenden beschreibenden Realismus bleibt die „Idealität“ alter Plastiktradition noch weitgehend erhalten. Hauptträger der künstlerischen Gestaltungstendenz ist die Linie; der ununterbrochene und sanftgleitende Linienfluss hat der Stilstufe den Namen gegeben. Die Umrisse der Gestalten und Gewänder meiden alle eckigen Brechungen und scharfen Kanten. Die Gewandfalten werden in schmiegsamen Kurven ineinander geführt. Weich ist nicht nur der Linienrhytmus, sondern auch das Sentiment der Kunst um 1400. Haltung und Bewegung der überaus schlanken Figuren sind anmutig und zart. Die Figuren scheinen mehr zu schweben als zu stehen, nahezu unbeschwert von körperlicher Stofflichkeit. Die Grundidee der Kunst um 1400 hat vielleicht in keinem ihrer Werke eine beglückendere Verwirklichung gefunden als in jener Reihe von Figuren, die als schöne Madonnen bekannt geworden sind.

Krumauer-Madonna
Die Madonna von Krumau, ca. 1400, gilt als Hauptvertreterin der Schönen Madonnen

In der Mitte des 15. Jahrhunderts kommt ein Stilumschwung zum nüchternen Realismus allgemein zum Durchbruch, der wie ein Gegenschlag auf den idealisierenden weichen Stil wirkt: Die Kunst des zweiten Jahrhundertdrittels wird allgemein als eckiger oder harter Stil bezeichnet. Etwa gegen 1430 erstarrt der Linienfluss, statt weichen Schwüngen ununterbrochenen Linien begegenen wir kantig straffen und geradlinigen durchlaufenden Faltenzügen; sie betonen die massige Stofflichkeit der schwer herabfallenden Gewänder. Gleichzeitig verändern sich Proportion und Körpergefühl.

Die Abkehr vom weichen Stil zu einem harten, eckigen Stil herber Nüchternheit und kraftvoller Strenge spiegelt die zwiespältige Welt des ausgehenden Mittelalters am Vorabend der Reformation wider, die einher ging mit einer Tendenz zur allgemeinen Verweltlichung von Lebensumständen und Religion.

6. Welche neuen Ideen enthält die Odilienstatue?
Die Odilienstatue entstand gegen Ende der Epoche des weichen Stils und verrät aber schon das Nahen einer neuen Zeit. Was die Werke der ersten Generation des 15. Jahrhunderts verbindet, ist der Glaube an die Ununterbrechlichkeit der Linie. Dieser formensprachlich verpflichtende ecken- und bruchlose Fluss der Linie geriet ins Wanken, indem dagegen zuerst an unauffälligen Stellen protestiert wurde.

Heiliege-Odilia-Arlesheim

Odilias anmutige und zarte Gesichtszüge und ihr dem Irdischen enthobener und vergeistigt erscheinender gütiger und doch ernster Blick sind noch dem weichen Stil verpflichtet. Der typische S-Schwung der schönen Madonnen, der ihnen zusammen mit der fliessenden Linienführung eine rhythmisch-bewegte Komposition verlieh, ist jedoch aufgegeben zugunsten einer rundlichen, kompakten Gestalt von blockhaft-geschlossenem Umriss.

Odilia-Staufalten-Arlesheim

Die vertikalen Falten des Mantels enden in rechtwinklig umknickenden Staufalten, die abrupt den Lauf des Linienflusses unterbrechen.

Die Absage an die geschwungene, ununterbrochene Linie und der in der Verblockung zum Ausdruck kommenden Erstarrung der Bewegung tönen den Realismus an, der sich in der allgemeinen Verweltlichung der Lebensumstände im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts ankündigte.

Der schon in Ansätzen spürbare Drang zum Reiz des Eckigen führte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einem neuen Realismus, der mit der Kunst eines Hans Multschers oder Konrad Witz' die definitive Abkehr vom weichen Stil einläutete.

7. Wie sinnvoll ist es, im 21. Jahrhundert die Formensprache der spätgotischen Odilienstatue des 15. Jahrhunderts zu verstehen versuchen?
Was vermag denn überhaupt eine im Dienste religiösen Glaubens geschaffene Kunst des späten Mittelalters dem Menschen unserer Zeit noch zu sagen? Einer Zeit, die aus banalen Objekten des täglichen Lebens und aus Wegwerfprodukten einer technisierten und sexualisierten Konsumgesellschaft die neue Ikonographie ihrer Kunst bezieht? Das 15. Jahrhundert ist – am Vorabend der Reformation – eine zwiespältige Welt geprägt von Krieg, Pest und Seuchen, Aufständen und Revolutionen, Lebensgenuss und Weltflucht, religiösen Zweifeln und frommer Gläubigkeit. Dieser zwiespältigen Welt haben wir die Spätgotik zu verdanken. Wer will, kann durchaus Parallelen und aktuelle Bezüge erkennen zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung von damals und heute. Wie damals stehen neben tiefgreifenden Krisen in Religion und Gesellschaft bahnbrechende Erkenntnisse in Wissenschaft und Kunst, die ein jahrhundertelang fest gefügtes Weltbild auflösen und eine Zeitenwende heranführen.

Wenn der Mensch unseres Zeitalters bereit ist, dem Sinngehalt der Formensprache des 15. Jahrhunderts nachzuspüren, dann kann er durchaus Analogien in existentiellen und künstlerischen Erscheinungsformen zweier ansonsten grundverschiedener Zeitepochen erkennen.

*) mit Dank an Felix Ackermann für Korrekturen, Ergänzungen und Literaturhinweise

Quellen
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Wölfflin, Heinrich, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 2004

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